Scheinselbstständigkeit in freien Berufen: Risiken, rechtliche Grundlagen und Schutzmaßnahmen
Die Scheinselbstständigkeit ist eines der größten Risiken für Unternehmen und freie Dienstleister. Was als flexible Zusammenarbeit beginnt, kann sich rückwirkend als abhängiges Beschäftigungsverhältnis herausstellen – mit teuren Konsequenzen für Auftraggeber und Auftragnehmer. Doch worauf kommt es an? Welche Branchen sind besonders betroffen? Und wie kann man sich schützen?
Was ist das Problem?
Scheinselbstständigkeit liegt vor, wenn eine Person formal als Selbstständige auftritt, tatsächlich aber in die Arbeitsorganisation eines Unternehmens integriert ist und weisungsgebunden arbeitet. Die Folgen können gravierend sein:
- Sozialversicherungsbeiträge-Nachzahlung: Auftraggeber müssen bis zu vier Jahre rückwirkend (bei Vorsatz bis zu 30 Jahre!) Sozialabgaben nachzahlen.
- Existenzbedrohende Kosten: Diese Nachzahlungen belaufen sich oft auf Zehntausende oder Hunderttausende Euro.
- Strafrechtliche Konsequenzen: Das bewusste Vorenthalten von Sozialabgaben kann als Straftat gewertet werden.
Wen betrifft das?
Betroffen sind nahezu alle Branchen, in denen auf Projektbasis gearbeitet wird. Besonders gefährdet sind:
- Ingenieure und Architekten
- Buchhalter und Steuerberater
- IT-Dienstleister, Softwareentwickler und Consultants
- Trainer in Fitnessstudios, Coaches und Berater
- Musiklehrer, Künstler und Dozenten
- Frachtführer, Kurierfahrer und Piloten
Ein zentrales Risiko besteht darin, dass Sozialgerichte oft schon dann Scheinselbstständigkeit annehmen, wenn eine Fachkraft überwiegend oder ausschließlich für einen einzigen Auftraggeber tätig ist.
Warum ist das problematisch?
Das größte Problem ist die rechtliche Unsicherheit.
- Was heute als korrekt gilt, kann morgen als Verstoß eingestuft werden: Selbst wenn ein Vertragsverhältnis bei einer Betriebsprüfung nicht beanstandet wurde, kann die Rentenversicherung Jahre später eine neue Bewertung vornehmen.
- Hohe Nachforderungen: Unternehmen können mit hohen Summen zur Kasse gebeten werden, was insbesondere für kleine Betriebe existenzbedrohend sein kann.
- Unsicherheit für Selbstständige: Viele ehemalige Freelancer werden in die Festanstellung gedrängt, weil Auftraggeber das Risiko vermeiden wollen.
Welche rechtlichen Grundlagen sind relevant?
Die Rentenversicherung prüft Scheinselbstständigkeit anhand klar definierter Kriterien aus § 7 Abs. 1 SGB IV und durch Urteile des Bundessozialgerichts (BSG).
Zentrale Fragen bei der Bewertung:
✔ Ist der Auftragnehmer weisungsgebunden?
✔ Ist er in den Betriebsablauf integriert?
✔ Trägt er ein unternehmerisches Risiko?
✔ Hat er eigene Betriebsmittel?
Aktuelle Urteile des Bundessozialgerichts:
▶ 28. Juni 2022 (B 12 R 3/20 R): Eine Musikschullehrerin wurde als abhängig Beschäftigte eingestuft, da sie fest im Stundenplan eingeplant war.
▶ 20. Juli 2023 (B 12 R 15/21 R, B 12 BA 4/22 R): Die Gründung einer Ein-Personen-GmbH schützt nicht vor Scheinselbstständigkeit, wenn der Unternehmer in die Betriebsorganisation des Auftraggebers eingebunden ist.
▶ 23. April 2024 (B 12 BA 9/22 R): Ein Pilot ohne eigenes Flugzeug wurde als scheinselbstständig eingestuft – entscheidend war, dass er ausschließlich für ein Unternehmen tätig war.
Was können Betroffene tun?
1. Status prüfen lassen
Unternehmen und Auftragnehmer können beim Clearingverfahren der Deutschen Rentenversicherung nach § 7a SGB IV prüfen lassen, ob eine sozialversicherungsfreie Selbstständigkeit vorliegt.
2. Auftragsverhältnis sauber gestalten
Selbstständige sollten:
✅ Eigene Arbeitsmittel nutzen (Laptop, Software, Büro etc.)
✅ Ihre Dienstleistungen am Markt bewerben und mehrere Auftraggeber haben
✅ Keine festen Arbeitszeiten oder Unternehmens-Mailadressen beim Kunden verwenden
3. Vorsorge treffen
Unternehmen sollten Rücklagen für potenzielle Nachforderungen bilden, um Liquiditätsprobleme zu vermeiden.
4. Expertenrat einholen
Ein Fachanwalt für Arbeitsrecht kann Verträge prüfen und Absicherungen empfehlen.
Fazit
Scheinselbstständigkeit ist eines der größten Fallstricke für freie Berufe und Unternehmen. Da sich die Gesetzgebung und Rechtsprechung ständig weiterentwickeln, ist es entscheidend, sich frühzeitig abzusichern – durch klare vertragliche Regelungen, eine diversifizierte Auftragslage und gegebenenfalls eine Statusprüfung bei der Rentenversicherung.